Aus dem Werbemüll, der täglich meinen Briefkasten verstopft, hatte der kanariengelbe Handzettel heraus geblinkt und mir ins Auge gestochen. Die internationale Schule Dialog suchte Gasteltern für ihre fleißigen Aspiranten, die in Bremen die deutsche Sprache erlernen oder perfektionieren wollten. Ein Anruf genügte und zwei Wochen später stand Izumi aus Okayama vor meiner Tür. Sie war die erste in einer Reihe von Kandidaten, die nacheinander und im Laufe der Zeit mein Gästezimmer mit Leben füllten. Ich weiß nicht, welchen Auswahlkriterien des Dialog-Teams ich unterlag, dass man mir hauptsächlich und immer wieder japanische Studenten vermittelte.
Gäste bringen Geschenke mit, dies scheint ein ehernes Naturgesetz zu sein, und so sammelten sich in meinem Zuhause mit der Zeit Souvenirs aus Osaka und Shizuoka, aus Kyoto, Kobe und Kawasaki. Reizende Geisha-Püppchen, hauchdünne Teeschalen, winzige Sake-Gläser, goldglänzende Löffelchen, Mikado und anderes Holzspielzeug, Fächer mit Motiven vom Heiligen Berg Fudschiyama oder von zartrosa knospenden Kirschblüten-Zweigen, Portemonnaies und Täschchen aus glitzernden Kimono-Stoffen wollten von mir angenommen, sortiert und den staunenden Besuchern vorgezeigt werden. Gerahmte Kalligraphien und Heerscharen filigraner Origami-Wesen rankten sich bald über Fensterbänke und Regalböden, wo sie die Ausstellung aus Fernost beständig erweiterten.
„Das ist alles sehr schön, aber einfach zu viel“, stöhne ich und wende mich Hilfe suchend an meinen Sohn. Vielleicht hat er einen Rat und weiß wohin mit dem Berg von Geschenken, die sich trotz ihrer bonsai-artigen Zierlichkeit allmählich zu erdrückendem Ballast entwickeln. Lukas absolviert gerade ein freiwilliges Jahr in einer sozialen Einrichtung und findet vielleicht unter seinen Schützlingen einen Liebhaber, der sich für japanisches Kunsthandwerk begeistern lässt. Mein Sohn verspricht sich diesbezüglich umzuhören, aber wochenlang passiert nichts.
Meine Freundin Hanna zeigt sich dagegen von größerer Entschlussfreude. „Was dir fehlt, ist eine rationelle Aufbewahrung“, schlägt sie vor, „eine schicke Vitrine könnte zum Beispiel helfen.“ Und da sie selbst ein paar Kleinmöbel und ein neues Stapelsystem für ihr Büro benötigt, lädt sie mich ein sie bei einer kleinen Einkaufstour zu begleiten. Gesagt – getan. Pünktlich um halb zehn Uhr hupt am nächsten Morgen ihr blauer Ford Kombi vor meiner Tür und lädt zu einer Erkundungsreise durch die neue Warenwelt ein. Wir überqueren zuerst die Weser und kurz darauf die Stadtgrenze. Knapp zwanzig Minuten später erreichen wir unser Ziel. Weithin sichtbar leuchtet gelb und blau das Markenzeichen des bekannten Unternehmens.
Um kurz vor zehn Uhr hat sich bereits eine Gruppe Kauflustiger vor dem noch geschlossenen Möbelhaus versammelt. Wir nutzen die Wartezeit für eine kleine Stärkung, denn gleich vis-à-vis hält der Backshop als Angebot des Tages je zwei Berliner mit einem Pott Kaffee feil. Dazu gibt es gratis einen Blick auf die Schlagzeile der Zeitung, die heute von der uns bedrohenden „Schrumpf-Rente“ kündet. Wir stopfen uns dazu die Schrumpf-Berliner in den Mund, wischen die von Marmelade und Puderzucker klebrigen Finger an den Jeans. Und da schnappt auch schon die Verriegelung des Eingangs auf und eine muntere Kundschaft setzt sich erwartungsfroh in Bewegung.
Durch das Portal und über die schwingende Stahltreppe gelangen wir in das geräumige Obergeschoss. Gleich hinter dem Drehkreuz zieht ein roter Zweisitzer unsere Blicke auf sich. Form und Farbe stimmen und auch der Preis von 69 Euro scheint vertretbar. Das Sofa heißt Solsta Gylle. Wir wagen eine Sitzprobe und springen gleich wieder auf. Solsta Gylle ist hart wie Beton. Seine Geschwister heißen Klippan, Klubbo und Klobo. Im Weitergehen streifen wir die Sessel-Serie Poäng, bei der praktischerweise schon einmal auf die Polsterreinigung Absorb hingewiesen wird.
Das am Boden verlegte Laufband führt uns durch die Schlafzimmer-Einrichtung mit den Bettgestellen Duken und Rekdal. Eine neue Generation von Schränkchen und Kommoden heißt Malm, gleich nebenan stapeln sich Matratzen mit dem höchsten Schlafkomfort verheißenden Namen Sultan. Wer es gern ein wenig dämmrig mag, findet hier die Jalousie Schottis. Rasch durchkreuzen wir die Kombination für das Büro, dessen Mittelpunkt der Drehstuhl Torkel bildet. Der Papierkorb Dokument und der Sortierkasten Variera beanspruchen kurz unsere Aufmerksamkeit. Dagegen können wir das Kinderzimmer Diktad mit dem Jonglierset Träning, mit Babyphon Patrull und Babyhandtuch Stänka am Ausgang der Etage getrost vernachlässigen.
Die Treppe hinab geht es nun in das schier unendliche Reich der tausend Accessoires. In der Lampenabteilung kann man zwischen den Leuchtsets Flamm, Blink und Glimt sowie der Standleuchte Uppbo wählen. Zu der Badeinrichtung Vättern passend gibt es das Toilettenset Viren mit der WC-Bürste Aften. Ein Badetuch trägt den Namen Näckten. Der Wäschekorb heißt Fyllen, der Treteimer Plumps, das Bügelbrett Pressa. Neben der Gardinenstange Index liegen stapelweise die Kleiderbügel Bumerang. Zwischen all diesen Dingen finden sich natürlich auch Behältnisse aller Art und Größe. Diese tragen Namen wie Kramfors, Knüll und Kremplin. Eine Hängeaufbewahrung kommt mit der schlichten Bezeichnung Hängst aus.
Hanna deckt sich im Vorbeigehen mit einigen Paketen der Servietten Enfaldig ein, wählt dazu vier Duftkerzen Sinnlig und ein paar Servierschüsseln Snäck für die anstehende Büroparty. Ein Sortiment dekorativer Flaschen verfügt über einen praktischen Bügelverschluss und demzufolge heißen diese gläsernen Gefäße Korken. Für die Büroküche kann Hanna noch die Schüsseln Dinera und Myndik sowie das Geschirrtuch Elly und das Schneidebrett Aptitlig gebrauchen. Die Bratpfanne Senior mit Pfannendeckel Stabil und Pfannenschaber Skruvstva lassen wir liegen und auch der Messerblock Duell kommt nicht in die blaue Einkaufstasche.
Meterhoch stapeln sich ein paar Meter weiter die Bodenbeläge in diversen Farben, Mustern und Größen. Hanna zieht aus einem Stapel Wollteppiche zwei Exemplare hervor. Kurz schwankt sie zwischen der moosig grünen Tundra und der sandig brauner Prärie, bevor Tundra den Vorzug erhält. Nun schwirre ich aus um einen Einkaufswagen zu besorgen. Damit gut ausgerüstet, geht es weiter in die Stoffabteilung, wo ebenfalls erdige Farben den Ton angeben. Hanna wählt einen rostrot gefärbten Ballen Stoff, da sie Vorhänge nähen will. Sie wendet sich an eine gelb-blau Uniformierte, die gerade Reste in Plastiktüten einschweißt, und bittet sie ihr sechs Meter abzuschneiden. Die Uniformierte darauf ohne den Blick zu heben: „Das machen Sie mal schön selbst!“ Hanna antwortet, und ihre Stimme bekommt dabei fast etwas Flehendes: „Das kann ich nicht.“ Darauf die Uniformierte, während sie ungerührt weiter einschweißt: „Do-och, das können Sie!“ Hanna wird erst ein wenig blass um die Nase, dann beginnt ihr Gesicht mit dem rostroten Stoffballen um die Wette zu glänzen, dann stößt sie hervor: „Wo ist der Ausgang? Ich muss raus!“
Jetzt nur rasch den Wagen geschnappt und nichts wie weg, fährt es mir in den Sinn. Aber wo zum Teufel ist unser Wagen? Suchend schaue ich mich um. Kunden ziehen wie Karawanen an uns vorbei, ihre Wagen mit dem Gewürzregal Sanella, dem Pfannenschaber Skruvstva und dem Wäschesack Bulla beladen, mit Treteimern und Messerblocks bewaffnet. Allein unser Wagen mit der Tundra ist verschwunden. Hanna knallt nach kurzem Zögern ihre Teelichter und Servietten auf die Näckten Badelaken und wir flüchten durch die Abteilung Kleinmöbel, wo ich über den Tritthocker Klappstra stolpere und mir fluchend den Knöchel reibe.
„Schauen wir wenigstens noch in den Schnäppchenmarkt“, halte ich humpelnd meine Freundin an. Die Resterampe heißt „Fundgrube“ und hier sehen wir das Sofa Solsta Gylle wieder. Ohne Armlehne und mit Kaffeefleck auf der Sitzfläche, gegen den wohl auch die Polsterreinigung Absorb nichts auszurichten vermag, kostet es reduzierte 59 Euro. Wir sehen Regale, Schränke und Kommoden in diversen Größen, unterschiedlich ramponiert. Und am Schluss dieser Ausstellung, als wir uns gerade abwenden wollen, entdecken wir sie: die Vitrine Detolf mit schwarzem Metallgehäuse, gläsernen Wänden und vier Einlegeböden. Die Innenbeleuchtung funktioniert nicht und der Türknauf fehlt. Von den ursprünglichen 120 Euro wurde das dekorative Stück auf mäßige 80 Euro herabgesetzt. Sofort entsteht ein Bild vor meinem inneren Auge und ich sehe die Vitrine in der Fensternische meines Wohnzimmers, ausgestattet mit lauter hübschen Kleinigkeiten und versehen mit einem Schild. „Schöne Dinge aus Nippon“ werden meine Besucher darauf lesen. Auf die Beleuchtung kann man verzichten und das mit dem Türknauf bekommt mein Sohn gewiss hin, denke ich voll Zuversicht. So winke ich Hanna zurück und wir reihen uns gleich darauf in die Schlange bei der Kasse ein. Eben schiebt der Kunde vor uns einen moosigen Tundrateppich über den Scanner, aber das interessiert uns nicht mehr. Der kleine Ausflug hat sich gelohnt, denn wir haben ja Detolf gefunden.
Gegen zwölf Uhr treffen wir wieder zu Hause ein. Vor meiner Tür parkt ein Kombi mit dem Aufdruck der Paritätischen Dienste. Im Eingang drängt ein rundlicher Knabe mit Hornbrille und Bürstenschnitt an mir vorbei, der einen Karton auf seinen Armen balanciert. Hinter ihm erscheint mein Sohn mit einer gepackten Sporttasche. „Wir machen einen Flohmarkt im Heim, Christoph hilft mir beim Tragen“, erklärt er mir. „Endlich wirst du die japanischen Sachen los; tut mir Leid, dass es lange gedauert hat.“ Lukas schultert die Tasche und eilt seinem Helfer Christoph nach. Ich stehe einen Moment wie angewurzelt und kehre dann zurück um nach Hanna zu sehen. Sie hat die Heckklappe ihres Wagens geöffnet und ist eben dabei das erworbene Stück vorsichtig von der Ladefläche herunter zu bugsieren. „Wohin jetzt mit Detolf?“ fragt sie mich. Ich überlege kurz. „Stellen wir ihn (oder muss es ‚sie’ heißen?) erst mal in den Keller“, schlage ich vor.