„Besucher im Rewe-Markt"


Freitag im Bremer Viertel. Später Nachmittag und der obligatorische Feierabend-Verkehr im REWE am Ziegenmarkt. Die Bewohner des Stadtteils sind dabei, ihre Einkäufe für das  Wochenende zu erledigen. Alle fünf Kassen sind geöffnet, davor stauen sich Alt und Jung, Singles und Familien mit ihren teils turmhoch beladenen Einkaufswagen. Überall Gedränge, Geschiebe, Murren und Bedauern über die täglich und auch heute wieder in Warteschlangen geopferte Lebenszeit. Während Kassiererinnen im Akkord Mozzarella, getrocknete Tomaten, Basilikum-Töpfchen, Feigenkäse, Parma-Schinken und andere Köstlichkeiten über den Scanner ziehen und sich die Kunden im Schneckentempo voran arbeiten, stehe ich inmitten einer Schlange beim Automaten für die Rückgabe von Pfandflaschen an. Früher wurde die Arbeit hier von Hand gemacht. Ein etwas legerer, aber stets gut gelaunter Mitarbeiter nahm das Leergut von den Kunden entgegen. Während er die Flaschen eher leidenschaftslos und nachlässig in Kisten und kleine Container sortierte, erzählte er umso vehementer von seiner Tätigkeit als Platzwart des Fußballclubs ATS Buntentor oder von dem jüngsten Auftritt seines Shanty-Chors Blaue Jungs im Seniorenheim Schöne Flora. Die Kunden, die nicht gerade in Eile waren, hörten interessiert zu, hakten nach und gaben Tipps und Kommentare ab. Am Ende rundete der Pfandflaschen-Mann den Betrag meist zu ihren Gunsten auf, weil er über seinen enthusiastischen Berichten das Addieren der Flaschen vergessen hatte. Gegen diesen beiläufigen Vorteil hatte niemand etwas einzuwenden. Irgendwann wurde die Stelle gestrichen und ein Automat aufgestellt. Dieser erzählt keine netten Geschichten, dafür streikt er mehrmals in der Woche, weil er verstopft, verklebt und allgemein verunreinigt ist oder der Behälter, in den das Leergut am Ende des Fließbandes rutscht, gefüllt ist. Das ärgert die Kunden, die jetzt nicht mehr über das Kulturprogramm in Altenheimen oder die Rasenqualität und Torstabilität bei regionalen Fußballclubs fachsimpeln, sondern erbost auf den stummen Automaten schimpfen oder sogar schlagen.


Auch heute, wo ich nur schnell eine paar Flaschen los werden will, ist es wieder einmal so weit. Schon mehrmals hat eine Kassiererin per Lautsprecher-Durchsage nach einem Mitarbeiter für den blockierten Automaten gerufen. Nichts geschieht, stattdessen verlängert sich die Schlange der Wartenden mit ihren Bier- und Wasserkisten, mit Glas- und Plastikflaschen in Tüten, Beuteln und Rucksäcken, im Minutentakt. Seufzen und Nörgeln der geplagten Marktbesucher ist die Folge. Leute stehen herum, manche tippen oder wischen dabei gelangweilt auf ihren smartphones. Vor mir lehnt ein Herr an einen Pfeiler und vertreibt sich die Wartezeit mit dem Auswickeln und Lutschen von Hustenbonbons, die er einer Tüte namens Rachengoldentnimmt.


Da durchdringt plötzlich eine Stimme das resignative Ausharren und leise Fluchen der Kundschaft. Lauthals fängt eine Frau in der Wartereihe an zu singen. „Backe backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen“, schallt es durch den REWE-Markt. Dazu wippt sie von einem Bein auf das andere, klatscht rhythmisch die Hände und freut sich geradezu diebisch über ihren Einfall. Köpfe, die im Kassenbereich eben noch über payback-Karten oder Warenkörbe gebeugt waren, schnellen in die Höhe. Irritierte Blicke treffen die Sängerin, und alle starren irgendwie befremdet auf die seltsame Person, die den Stillstand am Flaschenautomaten einfach ignoriert und stattdessen mit kratziger Reibeisenstimme davon singt, dass Safran den Kuchen gel macht. Leute recken die Hälse, prusten, kichern oder zeigen mit dem Finger. „Geh hier mal einer mit nem Hut rum“, brummt ein zotteliger Typ mit grauem Bart und Baseballkappe. „Aufhören, Oma“, ruft ein anderer, „davon springt der Automat nicht an.“ Allgemeine Heiterkeit und Gelächter. Ein paar Kinder laufen herbei, fangen an mit den Füßen zu wippen und sich zu drehen und schauen mit staunenden Augen zu der Backe-Kuchen-Frau auf.


Ich gebe nun das Warten auf und überlasse meine fünf einsamen Pfandflaschen der Baseballkappe, die in der Reihe hinter mir steht. Bevor ich gehe, sehe ich noch, wie der Rachengold-Mann der Sängerin, die unbeirrt und unverdrossenen weiter klatscht und ihr Liedchen kräht („schieb, schieb in Ofen rein“), sein Tütchen mit den Lutschbonbons („wohltuend für Stimme, Hals und Atemwege“) spendiert. Dann gibt auch er auf, lässt sein Leergut stehen und verlässt mit einem Lächeln den REWE amZiegenmarkt.